Bei dem Artikel ist mir mehrfach die Hutschnur geplatzt! Das kann man so hier nicht stehen lassen.
Als die ersten Bäume gefällt wurden und die Bagger anrollten, erhob sich mächtiger Protest, der sich in Form von "Montagsdemonstrationen", eine Erfindung der Leipziger Revolutionäre von 1989, vollzog und der von Bürgern aller Schichten und politischer Richtungen getragen wurde.
Es ist zwar richtig, dass die Proteste erst bemerkbare Umfänge angenommen haben, als es wirklich schon "zu spät" war. Aber das heißt nicht, dass die Anti-Stuttgart21-Bewegung sich aus einer Bierlaune heraus spontan auf die Straße gestellt hat. Der Kampf lief jahrelang "auf kleiner Flamme" und hat es bloß erst geschafft, die Massen zu erreichen, als die Bagger rollten.
Zum Zweiten ist aber Fukushima auch eine Zäsur, weil hier in beispielloser Weise ein Politikwechsel vollzogen wird, der seinen Grund in einer von Angst geprägten Befindlichkeit der (ver)öffentlichten Meinung in Deutschland hat. Die audiovisuellen Medien übertrafen sich in der Beschwörung von apokalyptischen Szenarien, so dass der Bundeskanzlerin angesichts bevorstehender Landtagswahlen nichts anderes übrigblieb, als ihren Atomenergiekurs radikal umzukehren.
[...]
Die Angst vor dem Atom ist in Deutschland seit der sogenannten "Atomtod-Bewegung" der 1960er Jahre und der Anti-Atomkraft-Bewegung der grünen und alternativen Bewegungen der 1980er Jahre ein Grunddatum politischer Kultur.
Haarsträubender Schwachsinn! Die Atomgegner werden hier als Horde verschreckter Hühner dargestellt, die von (grundlos?) panikmachenden Medien und einzelnen Spinnern getrieben kopflos irgendetwas fordern (natürlich auch wieder in einer spontanen Laune). Ich habe keine Lust, an dieser Stelle tiefer in die Materie einzudringen, daher nur so viel: die fortgeführte Nutzung der Atomenergie wäre auch ohne Fukushima und Tschernobyl völlig unverantwortlich.
Als nun dieser Politiker eines Plagiates seiner Doktorarbeit beschuldigt wurde, teilte sich die öffentliche Meinung in solche, die den Rücktritt des Ministers forderten, und solche, die das wissenschaftliche Plagiat eher für eine lässliche Sünde hielten. Letztere besaßen ganz eindeutig die Mehrheit und die Unterstützung der "Bild"-Zeitung.
Er wurde nicht nur beschuldigt sondern (auch schon vor der Prüfung durch die Universität selbst) eindeutig überführt. Und seine Antwort darauf ist eine offensichtliche Lüge nach der nächsten. Genau wie er bei mehreren vorigen Situationen, die leider nicht zu seiner güldenen Weste passten, nur mit Lügen und Fingerzeig agiert hatte. Ich weiß ja nicht, wie die FAZ darauf kommt, dass die gutgläubigen Schafe "ganz eindeutig die Mehrheit" besäßen - in meinem Umfeld gab es nur einen einzigen - und der war minderjährig und interessiert sich nicht wirklich für Politik.
Aber dass diese "Mehrheit" auch noch "die Unterstützung" der Bild-"Zeitung" habe, ist so eine widerwärtige Verdrehung, dass ich beinahe aufgehört hätte zu lesen. Die Bild unterstützt niemals das Volk. Die Bild trägt keine Meinung des Volkes. Die Bild macht Meinung, und zwar diejenige, die von einigen reichen Mogulen gewünscht ist. Die Bild hat das "Phänomen Guttenberg" von Anfang an mit aufgebaut, diesen verlogenen, verzogenen Schmierpilz als Lichtgestalt in die Köpfe derjenigen geschrieben, die dort genügend ungenutzte Parkfläche besaßen. Aber der Hammer kommt erst jetzt...
Das etablierte politische System, die Entscheidungsträger, wissen sich kaum der Emotionen aufgebrachter Bürger zu erwehren. Sie reagieren, wenn überhaupt, allein gemäß demoskopischer Tagesbefunde; sie haben das Ohr am Volk, aber sind nicht in der Lage, im politischen "Theater der Leidenschaften" (Bossuet) ihren Führungsanspruch zu behaupten. Entscheidungen werden je nach Stimmungslage gekippt, die Ausführung demokratischer Beschlüsse in einem von der Verfassung nicht vorgesehenen Gremium gestoppt und Personal je nach Umfrage der Massenblätter im Amt gehalten oder zum Rücktritt genötigt. Die repräsentative Demokratie liefert sich den kollektiven Emotionen aus.
Jetzt schreibt die FAZ so, als würden diese spontanen Launen aus dem Internet das gesamte Handeln unserer Regierung im Griff haben. Weiter von der Wahrheit entfernt geht es gar nicht!
Die Regierung macht nicht die Bohne Politik im Sinne der Bevölkerung - weder anhand von "kurzfristigen Launen", noch aufgrund anderer Bedürfnisse. Die anscheinend einzige Aufgabe ist es inzwischen, kurz- und mittelfristige monetäre Interessen der reichsten Bevölkerungsschicht und der Unternehmen (insbesondere der Finanz- und Exportwirtschaft) umzusetzen. Und zwar ohne Rücksicht auf Verluste, nach uns die Sintflut. Alle obigen "populären Maßnahmen" sind reine Show:
- Stuttgart 21 wurde verzögert, aber nicht verhindert. Die jüngsten Desinformationskampagnen zeigen das deutlich, wir werden so lange verarscht, bis die Bauarbeiten ohne Blutvergießen endlich durchgezogen werden können.
- Der Ausstieg aus dem Ausstieg aus dem Ausstieg der Atomenergie läuft auch nicht ohne größere Geschenke an die Atomindustrie ab. Zumal diese ihre maroden Meiler sowieso kaum noch zum Laufen bekommt.
- Guttenberg wird wiederkommen, daran habe ich keinen Zweifel, aber wahrscheinlich erst nach der nächsten Bundestagswahl. Außerdem ist die Politikerriege derzeit fast völlig austauschbar. Wer dem Volk die Lügen auftischt, spielt eine untergeordnete Rolle - mit politisch engagierten Einzelpersonen, die man wählen könnte, hat der Politzirkus eh nicht mehr viel zu tun. Man wählt nur noch "die Partei", welche in mehreren Farben und mit leicht unterschiedlichen Sprüchen daherkommt. Aber die Politik selbst ändert sich schon seit Längerem nicht mehr grundlegend.
Seltsamerweise meint die FAZ anschließend, wieder umschwenken zu müssen, vielleicht um der Überschrift gerecht zu werden:
Die Distanz zwischen repräsentiertem Bürger und repräsentierendem Politiker wächst, die Entfremdung vom politischen System ebenfalls.
[...]
Die Stellvertretung der Willens- und Entscheidungsbildung scheint sich weitgehend verselbständigt sowie den Kontakt zu den Vertretenen verloren zu haben, und das, obwohl doch die direktdemokratischen Verfahren in den vergangenen Jahren, nicht zuletzt in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland, erheblich ausgebaut worden sind. In der Wahrnehmung der Bürger hat somit die "gefühlte" Distanz zu ihren Repräsentanten zugenommen;
Wie passt es denn zusammen, dass das Volk die Politik im Griff hat, aber dabei die Distanz wächst? Und welche "direktdemokratischen Verfahren" wurden denn "erheblich ausgebaut"? Und warum wird aus obiger definitiv wachsender Distanz weiter unten nur noch eine "gefühlte"?
Weiter unten wird der Artikel besser, er erwähnt die Macht der Konzerne, international die Regierungen gegeneinander auszuspielen und diese mit Lobbyismus direkt zu lenken. Aber das Ganze wird leider in enorm schwülstigen Formulierungen versteckt. Das hätte man auch ohne Verlust deutlich kürzer und verständlicher schreiben können. Bei den Lösungsszenarien wird es wieder interessanter...
Erstens die reine Elitendemokratie, in der Funktionsträger und Interessenten eine oligarchisch zu nennende Herrschaft der Wenigen etablieren. Der Bürger wird - jenseits des Wahlaktes - allenfalls zur Akklamation von hinter den öffentlichen Kulissen getroffenen Entscheidungen benötigt oder aber zum Stillhalten genötigt. Das politische System beschafft sich Massenloyalität durch einen hohen Output an sozialen Leistungen und Ad-hoc-Reaktionen, die auf Stimmungslagen reagieren und Erregungen zu beruhigen suchen.
Das ist IMHO nahezu der Status Quo, jedoch bei stetig schwindenden sozialen Leistungen.
Meine Vision für eine funktionierende Demokratie wäre eher, die gestzlich legitimierte Korruption abzuschaffen. Dass Lobbyisten den Parlamentariern nicht nur permanent auf die Pelle rücken dürfen, sondern teilweise die Gesetze einfach selbst schreiben, ist eine unglaubliche Entwicklung, bei der es micht wundert, dass es noch keine Lynchmobs gab. Personen, deren offizieller Beruf es ist, Politiker mit Worten und Geschenken zu Gunsten ihres Geldgebers zu beeinflussen, dürfte es IMHO überhaupt nicht geben.
Darüber hinaus sind Parteispenden ein Unding. Wenn Konzerne einer Partei Millionen geben, damit diese den Konzernen Milliarden aus dem Steuersäckel geben, wie kann man das dann noch demokratisch nennen? Ich kann mir kein einziges Szenario vorstellen, bei dem eine Parteispende keine Bestechung darstellt - selbst wenn sie ohne formulierten Auftrag getätigt wird (was meiner Einschätzung nach selten sein dürfte).
Politiker müssen gut bezahlt werden, keine Frage, aber eben nicht von Interessenverbänden, sondern einzig und allein vom Staat. Für einen solchen Wechsel müsste man die ganze verfilzte Bande, die sich derzeit Volksvertreter nennt, natürlich samt und sonders ins Meer treiben. Sonst würden sie die etablierte Korruption einfach etwas besser verstecken. Leider weiß ich nicht, wie man so etwas anstellen kann.